Hungerjahre - in einem reichen Land. Der Filmklassiker von Jutta Brückner von 1980 in digital restaurierter Fassung auf DVD - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Kunst + Kultur



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 30.07.2017


Hungerjahre - in einem reichen Land. Der Filmklassiker von Jutta Brückner von 1980 in digital restaurierter Fassung auf DVD
Helga Egetenmeier

Als einer der ersten deutschen Filme, der sich offensiv mit der weiblichen Lebensrealität auseinandersetzt, gilt Jutta Brückners beeindruckender Debütfilm. Damit gewann sie auf der Berlinale 1980 den FIPRESCI-Preis in der Sektion Forum. Dieses Kleinod der Filmkunst der langjährigen Professorin an der Hochschule der Künste in Berlin erschien nun mit analytisch wie auch historisch spannendem Bonusmaterial wie der Film "Tue recht und scheue niemand" auf DVD.




Jutta Brückner komponiert mit ihrem ersten Spielfilm eine persönliche, wie auch feministische Auseinandersetzung mit den Gesellschaftsbildern, mit denen junge Frauen in der Adenauer-Ära konfrontiert wurden. Anhand ihrer Biographie präsentiert sie die Stimmung dieser Zeit durch die Augen der fiktiven 13-jährigen Ursula, die sie an ihre persönliche Lebensgeschichte anlehnt. Als Kriegskind in Düsseldorf geboren, schildert die Drehbuchautorin und Regisseurin die spießbürgerliche Enge im Leben der Jugendlichen.

Für ihren Spielfilm ausschlaggebend war ihr erster Dokumentarfilm: "Hätte ich den ersten Film nicht genau so machen können, wie ich es mir vorgestellt hatte, hätte ich keinen weiteren gemacht. In Hungerjahre erzähle ich fünf Jahre später die andere Seite der Medaille, die schwierige Geschichte zwischen meiner Mutter und mir."

Mütter und Töchter

In dem Dokumentarfilm "Tue recht und scheue niemand - das Leben der Gerda Siepenbrink" (1975), lässt Brückner ihre Mutter aus deren Leben erzählen. Mit privaten und historischen Fotografien ergänzt sie die Schilderungen zu einem politischen Gesellschaftsbild, das von den 1920 Jahren bis in die 1970er reicht. Beginnend bei dem kämpferischen Leben der Großmutter, die als Witwe mit vier Kindern ihren Weg zwischen vorherrschenden Weiblichkeitsbildern und der alleinigen finanziellen Verantwortung finden musste, entsteht das Leben einer selbstbewussten Frau. Die Mutter war die starke Frau, aber auch der einzige Mensch, an dem sich die Tochter orientierte.

Ihr Mann, der in der NS-Zeit Flugblätter verteilte und sich links orientierte, wird auch im Spielfilm ein Gegenstück zur Mutter. Jutta Brückner stellt dort den Vater als emotionalen Menschen dar, der auch nach der NS-Zeit noch politisch aktiv ist. Doch an der sittenstrengen, konservativen Mutter scheint die Ehe zu zerbrechen.

"Hungerjahre" zeigt eine kurze Zeit im Leben der heranwachsenden Ursula. Die in einer Generation der Verdrängung bis zur Gefühlskälte aufgewachsene Mutter bekommt immer weniger Macht über die emotionale Kraft und den Freiheitsdrang der Tochter. Doch an der Lieblosigkeit der Mutter zerbricht Ursula fast. Trotzdem schafft sie es immer wieder, sich aus der einengenden Mutter-Tochter-Beziehung zu lösen und begibt sich unbeholfen hinaus in die reizvolle und unbekannte Freiheit. "Ich habe sehr wenig aufgelöst in diesem Film", sagt Jutta Brückner zu Recht über "Hungerjahre".

Ihr gelingt es, Realitätsdarstellungen mit Phantasiebildern verschwimmen zu lassen, die den Zuschauer*innen das Gefühl der eigenen Orientierungslosigkeit, wie auch der von Ursula vermitteln. Gleichzeitig erzeugt Brückner damit eine Wahrnehmung historischer Abgründe, die vom Frauenbild des Nationalsozialismus, wie auch von religiösen und konservativen Patriarchatsbildern geprägt sind. Brückner, die auch promovierte Politikwissenschaftlerin ist, hat mit dem Film eine politische Geschichte inszeniert, in der ein großer Teil der historischen Komplexität der 50er Jahre eingefangen ist.

Autobiografisches Filmemachen

In den 1970er und 1980er Jahren entstanden die sogenannten "Frauenfilme", die mit einer feministischen Ausrichtung den Blickwinkel und die Fragestellungen von Frauen in den Mittelpunkt rückten. Zu den Regisseurinnen zählen neben Jutta Brückner auch Ula Stöckl, Helke Sander und Margarethe von Trotta. Die Filmemacherinnen wandten sich sowohl an ein weibliches Publikum, wie auch weibliche Biografien und Perspektivem im Vordergrund standen.

Jutta Brückner schreibt im beigefügten Text "Über autobiografisches Filmemachen": "Identität und Biografie sind Objekte des Begehrens, nichts, was sich durch die Summe des Gelebten zwangsläufig ergibt. Sie hängen zusammen mit einem störungsfreien Austausch zwischen dem Individuum und dem Platz, an dem es lebt. Dieser Austausch war für Frauen nicht vorhanden und deshalb war auch vom Beginn der Frauenbewegung an das autobiografische Bedürfnis so groß."

Beachtenswert - das Bonusmaterial

Ausführliche Texte zur Entstehung und zum historisch-feministischen Kontext des Films, wie auch Gespräche mit Erika Gregor (1980) und Gerburg Treusch-Dieter, sind der DVD als Information beigegeben. Wie erwähnt, gehört dazu auch Brückners erste Regiearbeit als Dokumentarfilmerin "Tue recht und scheue niemand - Das Leben der Gerda Siepenbrink" (1975), eine gelungene Ergänzung zu ihrem Spielfilm - egal in welcher Reihenfolge die beiden Filme angeschaut werden.

AVIVA-Tipp: "Hungerjahre" zeigt die qualvolle Emanzipation einer jungen Frau zwischen sexueller Unterdrückung und der fragwürdigen Moral in den Zeiten des Wirtschaftswunders. Schweigend sind dennoch die nationalsozialistische Vergangenheit und die weit darüber hinaus dauernden Patriarchatsvorstellungen immer präsent und werden mit der Abhängigkeit und den Loslösungskämpfen der Tochter von der Mutter verknüpft. Subjektiv bei der Sicht der Tochter bleibend, gelingt dem Film neben seiner Intensität auch eine Gesellschaftskritik, die heute noch ungemein beeindruckt und den Film zu einem wichtigen Zeitdokument macht.

Auszeichnungen
Preis der Internationalen Filmkritik FIPRESCI auf den Berliner Filmfestspielen 1980
Preis der Deutschen Filmkritik für den besten Spielfilm des Jahres 1980
Publikumspreis in Sceaux
Publikumspreis in Brüssel

Zur Autorin und Regisseurin: Jutta Brückner, 1941 in Düsseldorf geboren, studierte Politische Wissenschaft, Philosophie und Geschichte und schrieb 1973 ihre Dissertation über "Die deutsche Staatswissenschaft im 18. Jahrhundert." Seit 1975 arbeitet sie als Drehbuchautorin, Regisseurin und Produzentin für Filme und schreibt Hörspiele und Theatertexte, Filmkritiken und Essays, führt Regie für Funk und Fernsehen. Von 1986 bis 2006 war sie Professorin an der Universität der Künste in Berlin und gründete zusammen mit Wolfgang Ramsbott das "Filminstitut HdK" und zusammen mit Heinz Emigholz den Studiengang "Experimentelle Mediengestaltung". Gremienarbeit in der Frauenförderkommission des Berliner Senats, Gründung und Vorsitzende des Gendernets an der UdK, Direktorin (2009 - 2015), danach stellvertretende Direktorin (2015 - 2016) der Sektion Film und Medienkunst an der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg und Mitglied in vielen Beiräten und Festivaljurys. Ihr letzter Kinofilm "Hitlerkantate", bei dem sie Regie führte und das Drehbuch schrieb, startete am 18. Mai 2006 in den deutschen Kinos
Mehr Infos zu Jutta Brückner unter:
www.juttabrueckner.de

Hungerjahre - in einem reichen Land
Deutschland, 1980
Buch und Regie: Jutta Brückner
Kamera: Jörg Jeshel, Rainer März
Ton: Michael Loy, Michael Mladenovic
Schnitt: Anneliese Krigar
Kostüm: Reinhild Paul, Monika Grube
Musik: Johannes Schmölling
Produktion: Jutta Brückner-Filmproduktion in Koproduktion mit ZDF
Redaktion: Sibylle Hubatschek-Rahn
Gefördert von: Berliner Filmförderung
Cast: Britta Pohland, Sylvia Ulrich, Claus Jurichs, David Ismail, Helga Lehner-Madin, Ismail Mahdu, Cordula Hubrich, Tobias Meister, Hilla Preuss, Heidi Joscho, Max Grothusen, Viola Recklies, Bernd Schnier, Brigitte Hauschild u.a.
Vertrieb: absolut MEDIEN. VÖ: Januar 2017
Best. Nr.: 7019
ISBN: 978-3-8488-7019-6
EAN: 978-3-8488-7019-6
Lauflänge: 114 Minuten, s/w
14,90 Euro
www.absolutmedien.de

Bonusfilm: Tue recht und scheue niemand, Dokumentarfilm, 1975, 66 min
Bonusmaterial:
Doris Dörrie über Hungerjahre
Gespräch mit Jutta Brückner und Erika Gregor (1980)
Gespräch mit Jutta Brückner von Gerburg Treusch-Dieter über Hungerjahre
Jury der evangelischen Filmarbeit - Film des Monats, Juni 1980
Jutta Brückner über Hungerjahre
Jutta Brückner: Vom Singen im Wald bei Regen
Gespräch mit Jutta Brückner von Erika Richter (1997)
Karola Gramann, Heide Schlüpmann: Hungerjahre
Gespräch Jutta Brückner mit Gerburg Treusch-Dieter über "Tue recht und scheue niemand"
Über autobiografisches Filmemachen von Jutta Brückner

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Wie haben Sie das gemacht? Aufzeichnungen zu Frauen und Filmen, herausgegeben von Claudia Lenssen und Bettina Schoeller-Bouju.
Das Kompendium achtzig facettenreicher Erfahrungs- und Lebensgeschichten von Frauen hinter und vor der Kamera, am Schneidetisch und in der Produktion, lehnt sich bewusst an diese InsiderInnen-Frage an, die auf Truffauts berühmte Befragung Hitchcocks anspielt. (2014)

Der Fangschuss
Die Verfilmung von Marguerite Yourcenar´s ersten Erfolgsromans über eine fatale Liebesbeziehung, Gewalt und Klassenkampf mit Margarethe von Trotta endlich auf DVD erhältlich. Das Drehbuch ist eine Gemeinschaftsarbeit von Margarethe von Trotta, Genevieve Dormann und Jutta Brückner, Regie: Volker Schlöndorff. Erstaufführung 1976. (2008).

Hitlerkantate. Buch und Regie: Jutta Brückner
Musikschülerin Ursula Scheuner möchte dem Führer zuliebe eine bekannte Musikerin werden. Doch die Bekanntschaft mit dem Komponisten Broch lässt sie an ihrer Ideologie zweifeln. (2006)

Weitere Informationen finden Sie unter:

www.proquote-regie.de
Impulsvortrag von Jutta Brückner anlässlich der Veranstaltung "Aktion Q", einer Diskussion über "Qualität und die Angst vor der Frauenquote" in der Akademie der Künste während der Berlinale im Februar 2016.


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Beitrag vom 30.07.2017

Helga Egetenmeier